Luftfahrt nach Corona: Fünf Thesen zur Zukunft
Gerald Wissel, 06.09.2021
Die globale Pandemie hat die Luftfahrtindustrie wie kaum eine andere Branche getroffen. Mit der steigenden Durchimpfung der Bevölkerung werden die strengen Reisebeschränkungen zunehmend gelockert und die Nachfrage nach Flugreisen steigt wieder. Wie sich die Branche langfristig entwickeln wird, das diskutieren Branchen-ExpertInnen auf Einladung der ÖBAG in Dialogveranstaltungen mit der Branche. Vor dem Hintergrund der Standortvereinbarung zwischen Austrian Airlines, der Lufthansa und der Republik Österreich können folgende fünf Thesen zur Zukunft der Branche aufgestellt werden.
1. Jährliche Wachstumsraten wie vor Pandemie-Zeiten
Prognosen gehen mehrheitlich davon aus, dass (wie vor der Krise) jährlich mit einem Wachstum von 3 bis 4 Prozent pro Jahr in der Passagier-Luftfahrt und 2 bis 3 Prozent bei der Fracht zu rechnen ist. Nachholeffekte und die zunehmende Durchimpfung der Bevölkerung sollten Angst vor Ansteckung sowie Einkommensverluste (verursacht durch Kurzarbeit oder sonstige Einschränkungen im Einkommen) weitgehend kompensieren. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass Videokonferenzen kein Ersatz für private Reisen wie Urlaub, Familienbesuche und Städtetrips sind. Auch bei Geschäftsreisen ist ein Nachholeffekt beziehungsweise ein Aufschwung erkennbar – dieser findet allerdings aufgrund von zunehmender Digitalisierung sowie von Kostensenkungsprogrammen von Unternehmen verlangsamt statt.
2. Trend zum „Seamless Travel“
Je nach Reiseanlass werden pro Flugreise von der Bedarfsentstehung bis hin zur Erreichung der endgültigen Reisedestination bis zu 40 verschiedene Apps und/oder Webseiten verwendet, bei denen die KundInnen zum Teil wiederholende Angaben über die reisenden Personen, die Reise und individuelle Präferenzen tätigen müssen. Gepaart mit zunehmender Digitalisierung, Individualisierung beim Reise- und Kaufverhalten sowie einem Generationenwechsel bei den Kunden erhöht sich der Druck auf alle Leistungserbringer, sich entlang der Wertschöpfungskette (Vermittler, Buchungsplattformen, Fluggesellschaften, Flughäfen, Fahrdienstleister, Hotels) zu vernetzen. Somit wird dem damit immer stärker werdenden Wunsch nach „Seamless Travel“ nachgekommen. Luftverkehr wird folglich als ein selbstverständlicher Baustein in die persönlichen Mobilitäts- und Lebensbedürfnisse integriert werden müssen.
3. Weitere Konsolidierung der Luftfahrtsbranche
Aufgrund nationaler Standortinteressen bzw. -sicherung ist nicht mit nennenswerten Marktaustritten, insbesondere von klassischen Fluggesellschaften, zu rechnen. Überkapazitäten und Preiskämpfe sind daher weiterhin die Folge. Fluglinien mit klarer Fokussierung beziehungsweise einer ausreichenden Größe werden als Gewinner hervorgehen. Steigende Auflagen sowie der Wegfall von Subventionen erhöhen dabei zusätzlich den Druck.
Bei den Flughäfen wird es ebenfalls zu Verschiebungen kommen. So profitieren zukünftig die two-tier Flughäfen in Europa. Hintergrund ist, dass große Hubs zunehmend an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen und die Zunahme dezentraler Langstreckenverkehre aus den two-tier Flughäfen begünstigt wird. Diese Entwicklung wird auch durch die Single-Pilot Operations sowie effizientere Flugzeuge begünstigt. Aufgrund der dezentralen Strukturen im DACH-Raum bleiben die Hubs aber weiterhin ein wichtiger Baustein im internationalen Luftverkehr. Ein zunehmender Druck, wirtschaftlich zu agieren und Skaleneffekte zu nutzen wird dazu führen, dass es zu einer Konsolidierung des Hubs und zu einer Verlagerung von touristischem und reinem frachtbezogenem Verkehr weg von den Hubs kommen wird. Folglich wird auch die Beziehung zwischen Hub und Hub-Airline immer wichtiger, was zu einer wesentlich engeren strategischen Bindung bis hin zu einer kapitalmäßigen Verflechtung bzw. vertikalen Integration führen kann. Low-Cost Airlines werden zwar auch weiterhin Hubs in ihren Flugplan aufnehmen und durch virtuelles Hubbing Passagiere generieren, allerdings nur, solange sich Direktflüge wirtschaftlich rechnen.
4. Zunehmende Bedeutung von Nachhaltigkeit und Umweltschutz
Nachhaltigkeit und Umweltschutz erlangen – getrieben von allen relevanten Stakeholdern (Politik, Unternehmen, Kunden, Mitarbeiter, Investoren) – immer mehr an Bedeutung. So werden u.a. Kurzstreckenflüge in Europa immer mehr an Akzeptanz verlieren und der politische Druck auf Intermodalität und Verlagerung auf die Schiene zunehmen.
Dieser Ansatz wird jedoch sukzessive durch integrierte bzw. ganzheitliche Mobilitätskonzepte ersetzt, die eine wesentlich stärkere „End-to-End“ Betrachtung aufweisen. Während es bei Langstreckenflügen zum Kerosin in den nächsten 20 bis 30 Jahren keine wirklichen Alternativen geben wird, werden Regional- und Kurzstreckenflüge schrittweise elektrifiziert werden.
Zusätzlich wird ein bestimmter Anteil an synthetischem Kerosin in den nächsten Jahren verpflichtend für alle Fluggesellschaften werden und die Besteuerung von Kerosin zunehmend in den Vordergrund rücken.
Fluglärm wird aufgrund von Wachstum und Einsatz kleinerer Flugzeuge mit mehr Frequenzen weiter zunehmen und als immer intensiver wahrgenommen werden. Folglich werden Nachtflugbeschränkungen nicht weiter gelockert, sondern eher noch verschärft werden, was im schlimmsten Fall zu einer Begrenzung des Flugverkehres führen kann. Insgesamt werden die dem Luftverkehr zugeschriebenen Umwelteffekte deutlich sensibler wahrgenommen und bewertet werden.
5. Häufigere Krisen erwartet
Der Luftverkehr wird in den nächsten Jahrzehnten durch eine schnellere Abfolge und Überlappung von Krisen (wirtschaftlich, pandemisch, ökologisch) geprägt sein. Dabei wird eine rasche, internationale Reaktion der Luftfahrt zur Eingrenzung einer weltweiten Ausbreitung immer wichtiger werden. Krisenresilienz und Reaktionsfähigkeit sowie zunehmende Flexibilisierung des Geschäftsmodels insbesondere hinsichtlich Flugplan, Preisteuerung und Ticketkonditionen werden zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor avancieren.
Gerald Wissel ist der Experte in Fragen zur Luftfahrt, Mobilität und Tourismus. Der promovierte Betriebswirt und Spezialist für Innovationen, Management und Mobilität unterstützt Unternehmen in den Branchen Tourismus, Reisen, Luftfahrt und Mobilität wie bspw. Daimler, ThyssenKrupp, TUI, Lufthansa & Emirates.