Zinsrisiko in der Bewertung
Markus Lengauer, 04.10.2021
Im Rahmen unserer Aufgabe, ein verantwortungsvolles und wirtschaftlich fundiertes Beteiligungsmanagement im Interesse der Republik sicherzustellen, sehen wir uns laufend mit Bewertungsfragen konfrontiert. Dabei stellen neben den Prognosen über die künftig zu erwartenden Cashflows insbesondere die Abzinsungssätze einen zentralen Stellhebel dar. In diesem Beitrag betrachten wir, wie sich das historisch niedrige Zinsumfeld durch seine Wirkung auf Kapitalkosten auf Bewertungen niederschlägt, welche Risiken damit verbunden sind, und wie dies den Anlagehorizont von Investoren beeinflussen kann.
Zinsen und Werte
Bekannt ist, dass zwischen Zinsen und Bewertungen ein inverses Verhältnis besteht. Steigen die Zinsen, sinkt der Wert. Dieses Verhältnis ist am einfachsten anhand von Anleihen darstellbar. Die Republik Österreich hat im September 2021 eine 15-jährige Anleihe zu 0,25 Prozent p.a. begeben. Das Papier handelt aktuell bei 98,80 Prozent vom Nennwert. Ein Investor, der heute kauft, erzielt bis zum Laufzeitende eine (historisch niedrige) Rendite von 0,331 Prozent p.a. Ändert sich das Marktzinsniveau um +1 Prozentpunkt, sinkt der Preis der Anleihe um ~14 Prozentpunkte auf ca. 86 Prozent (Modified Duration). Ein bemerkenswertes Bild ergibt sich für die 100-jährige Anleihe der Republik Österreich aus dem Jahr 2020 (0,85 Prozent p.a. Kupon). Bei diesem Papier würde eine Änderung des Marktzinses von 1 Prozentpunkt eine Wertänderung um 65 Prozentpunkte bewirken. Andere Anleihen mit unterschiedlichen Restlaufzeiten liegen zwischen diesen beiden Bereichen.
Grundsätzlich gilt: Je länger die Laufzeit, und je geringer das aktuelle Marktzinsniveau, desto höher ist das Bewertungsrisiko bei steigenden Zinsen. Umgekehrt führt ein Absinken des Zinsniveaus zu immer höheren Bewertungen. Diese Zusammenhänge gelten nicht nur für Anleihen, sondern für alle Anlagemöglichkeiten, die auf Basis ihrer (erwarteten) Cashflows bewertet werden.
Auswirkungen auf Bewertungen
Im ersten Schritt haben wir dazu ein typisches Bewertungs-Lehrbuchmodell in der Form: Wert=Cashflow/Diskontierungssatz (P=CF/r) dargestellt. Vereinfachend wird angenommen, dass der Cashflow kein Wachstum aufweist, ad-infinitum lukriert werden kann, und auch tatsächlich erzielt wird. Der Diskontierungssatz entspricht einem risikoadäquaten Zinssatz: So rentieren zum Beispiel risikoarme Staatsanleihen bei unter 1 Prozent, Wiener Wohn-Immobilien bei 2 bis 3 Prozent; historische langfristige Aktienrenditen liegen bei 6 bis 8 Prozent Private Equity Investoren und Risikokapitalgeber typischerweise Renditeforderungen deutlich im zweistelligen Bereich. Für die aus diesem Modell entstehenden Bewertungen ergibt sich folgendes Bild für die Multiples (entspricht Preis für eine Einheit Cashflow), abhängig vom angenommenen Risiko bzw. Zinssatz. Das Prinzip ist ähnlich der Aktienbewertung mit der P/E-ratio (vgl. Perspektivenbeitrag zur Bewertung österreichischer Aktien) oder dem Kaufpreis/Jahresmiete Verhältnis bei Immobilien.
Noch viel anschaulicher wird dieser Sachverhalt, wenn man sich für Investitionen folgende Frage stellt:
Wie lange dauert es, bis ich den Wert eines Investments zurück verdiene?
Im zweiten Schritt haben wir analysiert, wie lange es unter diesen Annahmen bei unterschiedlichen Zinssätzen dauert, bis sich ein Investment von 100 Euro im Barwert „rechnet“ – sofern alles wie geplant läuft. So verdient man z.B. bei 15 Prozent Zinssatz ¾ des erwarteten Wertes des Investments in 10 Jahren zurück. Bei 10 Prozent Zinssatz verlängert sich der Zeitraum auf 15 Jahre; und bei 5 Prozent springt der Zeitraum auf 29 Jahre. Das ist auch intuitiv nachvollziehbar, da bei geringeren Zinsen für den gleichen Cashflow höhere Preise bezahlt werden (siehe oben zu den Multiples). Die Grafiken zeigen auch, dass je niedriger der Zinssatz, desto größer der Wertbeitrag der weiter in der Zukunft liegenden Cashflows ist.
Was bedeutet das? Eine kleine Zeitreise
Um diese Zeiträume besser zu veranschaulichen wagen wir eine Zeitreise in die Vergangenheit. Bei einer Renditeforderung von 5 Prozent landen wir im Jahr 1992, als Bill Clinton US-Präsident wurde. Reduzieren wir unsere Forderung auf 4 Prozent, sind wir im Jahr 1986 (Nuklearkatastrophe von Tschernobyl), bei 3 Prozent in 1974 (Watergate-Skandal), bei 2 Prozent in 1950 (Schuhman Plan – der Grundstein für die Entwicklung der EU) und bei 1 Prozent im Jahr 1881 mitten in der Zeit des Imperialismus.
Implikationen für Investoren
Durch das niedrige Zinsniveau sind Investoren zunehmend auf der „Jagd“ nach Renditebringern; Kapital ist grundsätzlich günstig. Dies hat einerseits den Vorteil, dass Geschäftsmodelle attraktiver werden, die über längere Zeiträume stabile, aber geringere Renditen bringen (Infrastruktur). Andererseits werden auch solche Geschäftsmodelle verhältnismäßig leichter finanzierbar, deren Cashflows erst viel weiter in der Zukunft erwartet werden (z.B. Ventures, Scale-ups).
Mit dieser Perspektive im Hinterkopf erscheint eines doch recht erstaunlich: Wir leben in einer spannenden Zeit, in der sich Geschäftsmodelle in 10, 5 oder sogar in 1 Jahr fundamental ändern oder neu entwickeln können. Oft lösen neue, innovative Modelle die Stellung alter Spieler in kurzer Zeit ab. Dies wird auch durch einfachere Finanzierung, unterstützt durch das Niedrigzinsumfeld, ermöglicht.
Allerdings wird dadurch auch die Zuverlässigkeit von langfristigen Prognosen immer schwieriger. Gleichzeitig werden wir durch die niedrigen Zinsen in den etablierten Bewertungsmethoden implizit dazu gezwungen, immer mehr Wert aus dieser ungewissen fernen Zukunft abzuleiten als je zuvor.
Wichtige Hinweise: Prognosen sind kein zuverlässiger Indikator für künftige Entwicklungen. Diese Publikation stellt weder eine Marketingmitteilung noch eine Finanzanalyse dar. Es handelt sich lediglich um Informationen über allgemeine Wirtschaftsdaten. Trotz sorgfältiger Recherche und der Verwendung verlässlicher Quellen kann keine Verantwortung für Vollständigkeit, Richtigkeit, Aktualität und Genauigkeit übernommen werden. Die Informationen sind nicht als Empfehlung zum Kauf oder Verkauf von Finanzinstrumenten oder als Aufforderung, ein solches Angebot zu stellen, zu verstehen. Diese Publikation dient lediglich der Information und ersetzt keinesfalls eine individuelle, auf die persönlichen Verhältnisse der Anlegerin bzw. des Anlegers (z. B. Risikobereitschaft, Kenntnisse und Erfahrungen, Anlageziele und finanziellen Verhältnisse) abgestimmte Beratung. Wertentwicklungen in der Vergangenheit lassen keine Rückschlüsse auf die zukünftige Entwicklung zu.
Markus Lengauer betreut in der ÖBAG die Telekom Austria, den BIG-Konzern und die FIMBAG. Darüber hinaus ist er (mit)verantwortlich für strategische Fragestellungen zu Infrastrukturthemen, zu denen er regelmäßig publiziert. Lesen Sie hier seinen Artikel über „Digitale Infrastruktur als zentraler Wettbewerbs- und Standortfaktor der Zukunft“. Vor Eintritt in die ÖBAG im Mai 2020 war er fünf Jahre für die Erste Group im Bereich M&A und Corporate Finance Advisory tätig.