Angst vor Wandel? Von den Konsequenzen, den digitalen Anschluss zu verpassen
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Stefan Thurner, 04.07.2022
„Alles ändert sich“, das ist nicht alter, römischer Ovidscher Käse, sondern die DNA der modernen Gesellschaft: Um bestehen zu können, muss sie sich alle 20 Jahre vollkommen neu erfinden. Wer das nicht glaubt, stelle sich die Welt von vor 30 Jahren vor: Kein Internet, keine Smartphones, sehr wenige wussten, was Email ist oder ein Browser, etc. Dieses Sich-neu-erfinden steht in vollkommenem Gegensatz zu vormodernen Gesellschaften, die über Jahrtausende hinweg alles versucht haben, die Gesellschaft darauf auszurichten, nur nichts zu verändern und „konservativ“ zu sein, um nur nicht Gefahr zu laufen, dass die nächste Ernte ausbleibt.
Wandel wird meist nicht positiv wahrgenommen, sondern schürt Angst und Unbehagen. Auch wenn Wandel langfristig, etwa seit der industriellen Revolution, zu massiven Verbesserungen und einer unfassbaren Wohlstandsvermehrung für alle beigetragen hat, wird er, sobald er unmittelbar bevorsteht, als kritisch und unerwünscht gesehen. Denn Wandel kratzt definitionsgemäß an der derzeit etablierten Ordnung, insbesondere an der Aufteilung der Ressourcen und des Reichtums. Wandel schafft kurzfristig immer auch Verlierer. Diejenigen, die befürchten, davon betroffen zu sein, sind gegen diesen Wandel. Bevorstehender Wandel wird daher von weiten Teilen der Bevölkerung vorwiegend als Krise wahrgenommen.
Das schafft ein Dilemma: Die westliche Gesellschaft muss sich erneuern, große Teile der Gesellschaft wollen dies aber nicht, sondern bevorzugen „Sicherheit“. Dass Sicherheit (des Wohlstandes) in der westlichen Gesellschaft nur durch Wandel garantiert wird, wird oft übersehen bzw. nicht wahrgenommen. Kein Wachstum ohne Wandel. Eine Kultur des Wandels, also, dass Wandel so gemanagt wird, dass er möglichst wenige Verlierer erzeugt, ist zumindest in der kontinental- und mitteleuropäischen Gesellschaft immer noch wenig populär – weit weniger als in den USA, Großbritannien und China – obwohl gerade das die Grundfeste der sozialen Marktwirtschaft ausmacht, für die Europa oft beneidet wird.
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Wird Wandel gut gemanagt, vollzieht er sich oft unmerklich. Wenn Wandel nicht durchgeführt, verzögert und verhindert wird, obwohl er in anderen Weltregionen stattfindet, führt das notwendigerweise früher oder später zu wachsenden regionalen Unterschieden und daraus resultierenden Spannungen. Wenn diese zu groß werden, vollzieht sich Wandel nicht mehr allmählich, sondern es kommt zu Brüchen [in der Gesellschaft], in denen sich Wandel dann zum Durchbruch verhilft. Solche [gesellschaftliche] Brüche erzeugen deutlich mehr Verlierer, verlaufen unvorhersehbar, können immens teuer sein und Gesellschaften für Jahrhunderte verändern und nachhaltig verwerfen.
Verzögerter Wandel, er derzeit in Europa in der Digitalisierung gelebt wird, birgt das Risiko einer Zäsur mit all ihren Folgen: Verlust der globalen Führungsrolle in Gestaltungskraft und damit verbunden ein hohes Risiko eines bevölkerungsweiten Wohlstandsverlusts und der Aufgabe der mühsam aufgebauten Werte wie Gleichheit, Freiheit, Solidarität und Demokratie.
Europa fällt in fast allen Bereichen der Digitalisierung weiter zurück und spielt in der globalen Umsetzung praktisch kaum eine Rolle. Auch besitzt Europa kaum nennenswerte Tech-Firmen und ist bereits abhängig von Schlüsseltechnologien, die ihren Sitz nicht in Europa haben (Lieferkettenkrise). Staatliche Institutionen verlieren mehr und mehr den Bezug zu den digitalen Möglichkeiten – die andernorts längst genutzt werden – und damit den Bezug zur globalen Wirklichkeit. Wenn Politik und staatliche Institutionen, deren zentrale Rolle es ist, Wandel sozial verträglich und fair zu managen, selbst den notwendigen Wandel nicht mehr vollziehen können, ist eine Zäsur unausweichlich. Denn andere Regionen verstehen es, die enormen Potentiale der Digitalisierung für den eigenen Fortschritt zu nutzen und um gegenüber anderen Regionen strategische Vorteile aufzubauen (strategische Lieferkettenkrisen). Digitaler Wandel funktioniert nach dem Matthäus Prinzip, das besagt: Diejenigen, die früh vorne dabei sind, gewinnen alles – Zögerer gehen leer aus.
Die Werkzeuge des digitalen Wandels sind Daten und Menschen, die diese innovativ zu nutzen wissen. Wir benötigen unzählige talentierte, kreative und unternehmerisch denkende Menschen, die IT-Entwicklungen an vorderster Front kreieren und umsetzen können. Um diese zu erhalten, muss man entsprechend viele ausbilden. Allerdings können jene Einrichtungen, die das leisten könnten, diese Aufgabe mit ihrer derzeitigen Ausstattung nicht erfüllen. Wenn hier nicht rasch umgedacht wird, geht die Fähigkeit zum digitalen Wandel verloren. Die Lösung ist banal: Bildung, Bildung, Bildung. Geld darf hier und jetzt keine Rolle spielen; Egal was es kostet, Zögern und weiter zurückfallen ist auf jeden Fall teurer.
Neben einer großen Zahl von talentierten Leuten braucht es eine breite Öffentlichkeit, welche die Notwendigkeit des sofortigen und entschlossenen Handelns wahrnimmt und mitträgt. Beides erfordert drastische Anstrengungen in der Bildung, Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Weiters braucht es eine Führungsebene, die bereit ist, diesen Wandel auf seinen vielen Ebenen proaktiv zu managen. Bestehen dafür derzeit Incentives? Es bedarf ein Framework, welches positives Alignment kreiert, einen breitflächigen Konsens für einen positiven und kontrollierten Wandel schafft und soziale Entrepreneurs in Politik, Management, Verwaltung, Industrie und Wirtschaft unterstützt, der Gesellschaft zu helfen, sozial verträglichen Wandel umzusetzen. Wandel gegen den Willen weiter Teile der Bevölkerung durchzusetzen ist mit demokratischen Werten unvereinbar und führt zu gesellschaftlichem Bruch. Eine Jahrhundert-Managementaufgabe steht unmittelbar bevor und die Lösung muss über Bildung, Ausbildung und Aufklärung erfolgen – der Wandel, der unseren Wohlstand absichert, beginnt hier.
Stefan Thurner ist Leiter des Complexity Science Hub Vienna und Wissenschaftler des Jahres 2017.