(Grüner) Wasserstoff im Energie- und Industriesektor
Wolfgang Anzengruber, 11.10.2021
Mit Bezug auf den dringenden Bedarf an Dekarbonisierung des Energie- und Industriesektors stellt Wasserstoff ein riesiges Potenzial dar. Insbesondere „grüner Wasserstoff“ bietet eine Reihe von Optionen für diese Transformation. Neben den verschiedenen Vorteilen, die die Anwendung von erneuerbaren und CO2 freien Wasserstoff bietet, sind einige Aspekte und offene Fragen in den nächsten Jahren noch zu klären, um eine erfolgreiche Einführung einer „grünen Wasserstoffwirtschaft“ sicherzustellen.
Die mittlerweile im Abklingen begriffene Corona Pandemie zeigt, dass mit enormen aber durchaus machbaren Anstrengungen der Gesellschaft und der Volkswirtschaften gigantische Herausforderungen erfolgreich bewältigt werden können. Dies sollte uns auch Zuversicht geben, die Herausforderungen des Klimawandels und die dafür notwendige umfassende Transformation der Industrie und unseres Wirtschaftssystems erfolgreich zu gestalten. Dazu bedarf es offensiver und mutiger Strategien, vor allem aber wissenschaftliche Initiativen, Innovationen und Investitionen.
Transformation des Energiesystems
Die Transformation des Energiesystems von fossilen Grundstoffen (Kohle, Öl, Gas, Uran) zu erneuerbaren Erzeugungstechnologien (Wasser, Wind, PV, Biomasse) hat im Stromsystem bereits zu erheblichen Emissionsreduktionen geführt und ist auch weiterhin auf gutem, wenn auch manchmal holprigem, Weg. Nach Anlaufproblemen beim Emissionshandel (ETS) ist dieses marktwirtschaftliche Instrument zu einem Faktor geworden, der Investitionsentscheidungen in den ETS-Industrien (Strom, Stahl, Papier, Glas, Zement) zunehmend maßgeblich beeinflusst. Eine Ausweitung dieses Instruments auf weitere Sektoren (Verkehr, Wärme) ist unumgänglich und bereits in vielen Industriestaaten Europas „state of the art“. Neben der zunehmenden Elektrifizierung der Wirtschaft zur Reduktion der industriellen CO2 Emissionen, steht nunmehr der nächste Schritt an, nämlich die Substitution der fossilen Rohstoffe durch erneuerbare Energieträger. In diesem Zusammenhang wird nachhaltig produzierter Wasserstoff eine fundamentale und unverzichtbare Funktion einnehmen. Wasserstoff H2 ist bereits heute ein wichtiger industrieller Grundstoff, der aktuell jedoch überwiegend aus fossilen Quellen („grauer Wasserstoff“) stammt. In diesem Zusammenhang hat sich eine farbliche Unterscheidung hinsichtlich der Ausgangsstoffe, Nebenprodukte, Energieeinsatz und CO2 etabliert.
Fünf Potenziale von Wasserstoff
Der Einsatz von Wasserstoff in der Wirtschaft bietet eine Reihe von wichtigen Potenzialen und Zusatznutzen, wobei in den einzelnen Aspekten eine detaillierte Betrachtung erforderlich ist.
- Emissionen
Der grundsätzliche Vorteil von Elektrolyse-Wasserstoff liegt in seinem signifikanten Beitrag zur Substitution von fossilen Rohstoffen und damit zur Dekarbonisierung. Dieses Potenzial kommt jedoch nur dann zur vollen Wirkung, wenn es sich um „grünen Wasserstoff“ handelt, d. h. der Stromeinsatz aus 100 Prozent erneuerbaren Ressourcen stammt.
- Energieeffizienz
Bei der Beurteilung der erzielten Energieeffizienz – im Wettbewerb mit den aktuellen Energieformen – ist seriöser Weise das Gesamtsystem zu betrachten. Insbesondere im Mobilitätsbereich wäre dazu mehr an Objektivität erforderlich.
- Energieträger
Bei den globalen Anstrengungen die Verbrennung von fossilen Ressourcen zu eliminieren, muss darauf hingewiesen werden, dass damit auch fast alle heute verwendeten Energieträger verschwinden werden und erneuerbare Energieträger erforderlich sind. Neben den Biokraftstoffen und Pumpspeicherkraftwerken, die im Portfolio der aktuellen Energieträger nur jeweils einen einstelligen Prozentsatz einnehmen, stellt „grüner Wasserstoff“, durch seine Speicher- und Transportfähigkeit, ein eminent wichtiges Potenzial dar.
- Energiedichte
Bei der Betrachtung der volumetrischen Energiedichte von grünen Gasen liegt Wasserstoff deutlich hinter den heute verwendeten fossilen, flüssigen Energieträgern. Selbst hoch komprimierter und flüssiger Wasserstoff erreicht nur etwa 25 Prozent der Energiedichte von Benzin oder Diesel.
- Energiespeicher
Während aktuell derzeit die notwendigen Energiespeicher auf Kohle-, Öl- und Gasspeicher basieren, sind das im künftigen CO2-freien und erneuerbaren Energiesystem bestehende Speicherpotenzial an Pumpspeicher auszubauen und neue Speichertechnologien marktreif zu machen. Diese neuen mechanischen, chemischen, thermischen und elektrischen Technologien unterscheiden sich hinsichtlich Speicherdauer und Speicherkapazität. Der Bedarf an Speicherkapazität wird vor allem durch die Volatilität der erneuerbaren Stromerzeugung und den erforderlichen saisonalen Ausgleich massiv steigen.
Brückentechnologien auf dem Weg zur Wasserstoffwirtschaft
Das eventuelle Erfordernis von Brückentechnologien auf dem Weg zur CO2-Neutralität ist aktuell Gegenstand von heftigen Diskussionen. CCS und CCU sind hinsichtlich Akzeptanz, möglicher unerwünschter „lock in“ Effekte und nachhaltiger Wirksamkeit zu beurteilen.
Wertschöpfungsabschnitte der Wasserstoffwirtschaft
- Stromerzeugung
Es ist unbestritten, dass der Bedarf an erneuerbarem Strom für „grüne Wasserstofferzeugung“ erheblich steigen wird und die Bedarfsabdeckung aus lokalen europäischen Ressourcen nur zu etwa 20 bis 50 Prozent möglich sein wird.
Die aktuelle Diskussion auf EU-Ebene über das „Additionalitätskriterium“ für erneuerbaren Strom zum Einsatz für „grüne Wasserstofferzeugung“ wird den Aufbau von Elektrolyseanlagen in Europa verlangsamen. Damit werden Kooperationen mit außereuropäischen Regionen verstärkt notwendig.
- Elektrolyseverfahren
Drei verschiedene Typen von Elektrolysen (alkalische, PEM, Hochtemperatur) mit einem Wirkungsgrad von ca. 60 bis 85 Prozent sind derzeit in Anwendung, die sich hinsichtlich der Marktreife und Investitionskosten von ca. 800 €/kW bis 6.500 €/kW noch deutlich unterscheiden. Die alkalische Elektrolyse ist aktuell die verbreitetste Technologie, wobei der Hochtemperaturelektrolyse hinsichtlich des künftigen Potenzials an Kostendegression und Wirkungsrad eine interessante Perspektive attestiert wird.
- Transport
Die Kosten für den Transport, der in verschiedenen Aggregatzuständen erfolgen kann, stellen einen wesentlichen Faktor in der Wirtschaftlichkeitsrechnung des Gesamtsystems dar. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei einer erfolgreichen Etablierung der Wasserstoffwirtschaft in Europa, erhebliche Mengen an Wasserstoff importiert werden müssen. Da für lange Distanzen der Transport via Pipelines die höchste Kosteneffizienz aufweist, wird die Umwidmung und Umrüstung von bestehenden Gasnetzen eine interessante Option.
- Nutzung
Das Anwendungspotenzial von „grünem Wasserstoff“ geht über die Substitution des heute verwendeten grauen Wasserstoffs weit hinaus und ist enorm. Vor allem der Wasserstoffbedarf für die Dekarbonisierung der Stahlindustrie und für die Erzeugung von synthetischen Kraftstoffen wird die Nachfrage kräftig steigern.
Erforderliche Rahmenbedingung
Obwohl die Produktion von „grünem Wasserstoff“ – im Vergleich zu „grauem Wasserstoff“ – aktuell noch weit entfernt von einer Wirtschaftlichkeit ist, so wird perspektivisch kein Weg an einer „grünen Wasserstoffwirtschaft“ vorbeiführen. Neben der Unabdingbarkeit der Einhaltung der Ziele zur Dekarbonisierung werden steigende CO2-Kosten, erwartete Kostendegressionen und der Entfall von „carbon leakage“ Begünstigungen bei „grauem Wasserstoff“ den Kostennachteil mittelfristig reduzieren bzw. eliminieren. Nationale und EU-weite Förderprogramme für die erforderlichen Investitionen (CAPEX) und befristete Beihilfen für die Betriebskosten (OPEX) über „contract for differences“ können den Weg zur Erreichung der Wettbewerbsfähigkeit von „grünem Wasserstoff“ deutlich beschleunigen.
Hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie wird das Thema der Kohlendioxid-Zölle (carbon cross border adjustment) auf EU-Ebene zunehmend an Bedeutung gewinnen, um sicherzustellen, dass die Industriequote Europas nicht verwässert wird und auch die energieintensive Industrie zukünftig günstige Standortbedingungen in Europa vorfindet. Neben den unmittelbaren Kostenaspekten, steigt der Druck auf marktadäquate Regulierungsbestimmungen, um eine transparente Zuordnung der Wertschöpfungsabschnitte hinsichtlich Wettbewerb und Regulierung zu gestalten. Dazu gehören auch belastbare Zertifizierungssysteme zur preislichen Unterscheidung der unterschiedlichen „Farben“ des Wasserstoffs.
Darüber hinaus ist der Aufbau von physischen und virtuellen Handelsplattformen erforderlich, um einen grenzüberschreitenden Handel von Wasserstoff zu ermöglichen. Gleichzeitig bedarf es rechtzeitiger Bemühungen bei den BürgerInnen (Kunden und Anrainern) zur Akzeptanzschaffung für Wasserstoff im Allgemeinen und „grünen Wasserstoff“ im Besonderen. Aktive und leistungsfähige Universitäten und Forschungsinstitutionen, für die noch vielfach notwendigen Innovationen sind jedoch die unbedingte Voraussetzung für eine erfolgreiche Etablierung einer „grünen Wasserstoffwirtschaft“ in Europa.
Trotz der noch vor uns liegenden Herausforderungen stellt die grüne Wasserstoffwirtschaft einen wesentlichen und unverzichtbaren Baustein für die Gestaltung einer nachhaltigen industriellen Zukunft dar. Für österreichische Energie- und Industrieunternehmen könnten durch mutige und rechtzeitige Investitionsinitiativen interessante profitable Wachstumschancen erschlossen werden. Die ÖBAG-Gruppe beinhaltet große Industrieunternehmen mit wesentlichen Flaggschiffen im Portfolio. Gerade im Bereich der Zusammenarbeit zwischen den Portfoliounternehmen der Staatsholding gibt es Potenziale, die es zum Wohle der österreichischen Wirtschaft – ebenso wie der Unternehmen selbst – zu nutzen gilt. In der Wasserstofftechnologie kann eine Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen Großes bewegen.
Wolfgang Anzengruber ist seit Anfang 2020 Mitglied im Beteiligungskomitee der ÖBAG. Er managte von 2009 bis Ende 2020 den Verbund, Österreichs größtes und führendes Stromunternehmen. In dieser Zeit hat er Verbund als Vorreiter in der klimafreundlichen Stromerzeugung positioniert und den Konzern gleichzeitig zum größten an der Wiener Börse gelisteten Unternehmen weiterentwickelt.