Essay: Trau dich.
Wolf Lotter, 16.06.2023
1 Kaninchen und Raketen
Wir leben in Zeiten, in denen häufig von Transformation die Rede ist. Das Wort wird, wie viele heute, leichtfertig und schnell ausgesprochen. Was es bedeutet, bleibt dabei aber oft auf der Strecke. Transformation heißt Verwandlung, und die kann man so oder so verstehen. Wenn der Zauberer im Varieté ein Kaninchen aus dem Zylinder holt, dann ist diese Verwandlung ein Trick, also etwas Reales, dessen Abläufe wir aber nicht durchschauen. Erstaunlicherweise fragen sich die meisten Menschen im Publikum, wenn sie diesen oder einen ähnlichen Trick gesehen haben: „Wie hat er das gemacht?“ Nach der Vorstellung stellt man Thesen auf und versucht sich an einer Analyse. Vielleicht googelt man sogar nach, wie diese „Kaninchen aus dem Hut zaubern“-Tricks funktionieren. Denn die sind ja ein Standard der professionellen Magier, und irgendwie, wie man heute sagt, kann es sich dabei ja nicht um „Rocket Science“ handeln. Beim Nachfragen stellt sich dann vielleicht heraus, dass die Sache gar nicht so einfach ist. Es braucht ziemlich gut geölte Abläufe, um den weißen Nager aus dem Hut zu zaubern, ohne dass jemand merkt, dass er eigentlich schon immer drin war. Doch wo die Neugierde einmal geweckt ist, hört sie nicht auf, uns herauszufordern. Wie haben die das gemacht?
2 Dabei oder von gestern
Was hat das mit der Transformation zu tun, die heute nicht nur den sozialökologischen Bereich im Fokus hat, sondern nach und nach die alte Ordnung der Industriegesellschaft in eine digitale Wissensgesellschaft verwandelt? Alles. Denn es scheint, dass sich die Menschen viel mehr für Zaubertricks interessieren als für die reale Verwandlung. Sie interessieren sich nicht dafür, wie Wirtschaft funktioniert und wozu die Digitalisierung gut ist, außer natürlich, um einmal im Jahr ihr Smartphone zu wechseln. Deshalb können viele Leute ununterbrochen Kaninchen aus dem Hut zaubern und so tun, als würde es sich dabei nicht um einen Trick handeln, der schon unzählige Male zuvor gemacht wurde. Die Leute schauen nicht zu. Warum? Keine Verwandlung, keine Transformation ohne Interesse, ohne Neugier. Psychologen wissen, wie so was funktioniert. Das Wort Interesse gehört zur Transformation wie die Henne zum Ei. Interesse bedeutet in seinem lateinischen Ursprung „zwischen etwas sein“, auf dem Weg also, etwas Neues zu erkennen und zu verstehen und dabei das Alte hinter sich zu lassen. Interesse bedeutet auch „dabei sein“, bei der Sache also, aufmerksam oder eben „interessiert“. Fassen wir zusammen: Wer sich nicht für die Transformation interessiert, der steht nicht zwischen dem Alten oder Neuen, sondern ist auf das Gestrige festgelegt, hat sich also nicht bewegt. Und das bedeutet dann auch, dass er oder sie eben nicht dabei ist. Nicht heute, nicht in Zukunft. Wer nicht fragt, nichts wissen will, nicht neugierig ist, wie es geht und läuft, der bleibt stehen und macht sich überflüssig. So einfach ist das.
Das gilt für Staaten, Kulturen, Organisationen und natürlich vor allen Dingen für die, die all das gestaltet haben und für die es da ist, die Menschen selbst. Einerseits leben wir in einer Aufmerksamkeitsökonomie, in der sich die Leute ständig sorgen, nicht gesehen zu werden. Der schlaue Sozialpsychologe Abraham Maslow hat das schon 1941 vorhergesehen: Wenn der Wohlstand und die Komfortzonen sich auf den ersten drei Stufen der menschlichen Bedürfnisse – Existenz-, Sicherheits- und Soziale (Gemeinschafts-) Stufe einmal etabliert haben, dann wollen die Leute gesehen werden, Respekt und Anerkennung haben. Doch dieser vierte Maslow ist nur die „halbe Wahrheit“, wenn man dieses Buhlen nach Anerkennung, das heute nicht nur auf TikTok und Instagram passiert, nicht durch die fünfte Stufe auflöst, die Selbstverwirklichung. Damit meinte Maslow übrigens nicht, dass auf dieser Ebene alle tun, was ihnen gerade einfällt, sondern dass hier Menschen ihre Fähigkeiten und Talente bewusst einsetzen, um aus sich das Beste zu machen. Das ist übrigens auch das, was der Gemeinschaft, den anderen, am meisten nützt. Merkwürdigerweise hakt es gerade auf dieser Stufe ziemlich. Die Leute machen gern ein Selfie von sich und teilen es mit anderen. Aber sie glauben nicht, dass sie die vermeintlich hohe Komplexität der Transformation schaffen. Sie stellen sich vordergründig als cool und tough hin, aber das ist sehr oft nur ein Trick, um von der eigenen Angst und Ohnmacht abzulenken. Sie kommen nicht weiter. Sie wissen nicht, wie. Sie haben es nicht gelernt.
3 Kümmern sorgt für Verkümmerte
Nun wollen wir die Menschen, die an der Transformation zweifeln oder verzagen, nicht vorschnell zu Opfern machen – gerade das nicht. Das ist ohnehin ein Muster, das in unserer Zeit von der Politik und den Medien, also den wichtigsten aufmerksamkeitsökonomischen Playern, gerne genutzt wird: Opferrollen machen aber Menschen zu etwas, was sie nicht sind, zu hilflosen Figuren, zu Objekten, die jemanden brauchen, der sich um sie kümmert. In der Vormoderne kam diese Rolle dem Adel, dem Klerus und den Gutsherren zu. Ihre Untertanen „gehörten“ ihnen, im Wortsinn, aber sie hatten auch die Verpflichtung, sich um sie zu kümmern, wenn Gefahr drohte – zumindest war das das Versprechen. In der Fabrikgesellschaft übernahm diese Rolle nicht nur der „Herr Direktor“, sondern zunehmend auch der Staat selbst. Er kümmerte sich um die wichtigsten Lebensangelegenheiten, ganz so, als ob die Bürgerinnen und Bürger dafür einfach zu dumm wären. Jedes Lebensrisiko wurde von der Politik mit einer Garantie belegt. Das Risiko, dass eine Firma pleite geht, mit Jobgarantie, das Risiko, dass Energie und Leben teurer werden – durch Pandemie, Inflation und Weltkrisen –, mit der großen Gießkanne des Staates. Zu viel Kümmern sorgt aber für Verkümmerte, die dann nicht merken, dass es ihr eigenes Geld ist, von dem sie – nach Abzug der Verwaltungskosten – ein bisschen zurückbekommen. Es ist also keine Garantie, sondern eigentlich ein fauler Zauber, der heute und morgen, auch von künftigen Generationen, unseren Kindern und Enkeln, bezahlt werden muss. Sind wir nicht neugierig, wie das auch anders ginge?
4 Nimm nur, was du brauchst
In Demokratien kennen alle Verfassungen das Subsidiaritätsprinzip. Es bedeutet, dass die, die können, sich selbst helfen sollen, damit die, die wirklich Hilfe brauchen, weil sie krank, alt und hilflos sind, gute Hilfe bekommen können. Es geht also nicht um das falsche Gerechtigkeitsprinzip, bei dem mir zusteht, was der Nachbar hat, sondern um echte, wirksame Hilfe, die es nur dann gibt, wenn einige nicht etwas nehmen, was sie nicht brauchen. Das Subsidiaritätsprinzip leuchtet uns im kleinen, vertrauten Kreis völlig ein. Wenn ein Kind Bauchschmerzen hat und einen Kamillentee braucht, dann müssen seine Geschwister nicht mittrinken. Hat das Kind Geburtstag, dann bekommen seine Geschwister auch ein Stück vom Kuchen und ein Glas Limonade, aber nicht dieselben Geschenke wie das Geburtstagskind. Und: Menschen, die in der Firma und in der Gesellschaft immer darauf warten, dass ihnen jemand von „oben“ sagt, was gut ist und was falsch, die sind dann in ihrer Freizeit sehr selbstständig, organisieren Vereine, Hochzeiten, Hausbauten und erledigen komplizierte Dinge, die ihnen sonst niemand so recht zugetraut hätte. Das Subsidiaritätsprinzip ist also sehr lebensecht, ein Stück Kultur und Recht, auf das wir stolz sein können, weil es ganz ungekünstelt ist. Aber wir müssen es auch leben lassen. Was uns im Kleinen logisch erscheint, tun wir im größeren Zusammenhang nicht.
5 Zutrauen
Selbstverwirklichung und Selbsthilfe, also Subsidiarität, sind Geschwister eines modischen Wortes, das ebenfalls unverzichtbar für eine gelungene Transformation ist: Selbstwirksamkeit. Auch hier geht es also darum, dass jede und jeder von uns sich in die Verantwortung bringt, in diesem Fall sogar in die eine ganz fundamentale Selbstverpflichtung: das Vertrauen in das eigene Können und die eigene Tüchtigkeit. Es ist kein Zufall, dass diese Selbstwirksamkeit – self-efficacy – in schwierigen Zeiten entscheidend ist. Es geht um das Zutrauen, dass wir mündig sind, dass wir das, was heute an Problemen da ist, nüchtern, aber mit großem Vertrauen in unsere Fähigkeiten anpacken. Das klappt umso besser, als unsere Gesellschaft, Kultur, Politik und Medien dazu ermuntern, dass wir die Grundlagen dieser Zeit verstehen, Interesse dafür wecken und neugierig sind, welche Lösungen die besten sein können für all die offenen Fragen, die wir haben. Das übrigens ist auch, was wir alle vom Leadership in Politik und Wirtschaft erwarten müssen: den Menschen mehr ermöglichen, sich selbst zu helfen und weiterzukommen, und ihnen, wie es der Berater Reinhard Sprenger einmal formuliert hat, „dabei mehr zutrauen als sie sich selbst“. Das ist kein Trick, sondern die Voraussetzung dafür, dass wir mit dabei sind im 21. Jahrhundert und eben nicht zurückbleiben. Der Glaube, die Zuversicht in uns selbst. Das ist, wovon Immanuel Kant geredet hat in seiner Schrift „Was ist Aufklärung?“ – die Antwort hat er gleich mitgeliefert: „Der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Das sollte unser Anspruch sein. Der gelungene Start in die Wissensgesellschaft ist es sicher.
Der Essay von Wolf Lotter erschien im ÖBAG Geschäfts- und Nachhaltigkeitsbericht 2022.
Wolf Lotter schreibt seit über 25 Jahren Wissensgesellschaft ist es sicher. über den Kapitalismus, seine Veränderungskraft und das Verhältnis moderner Konsumbürger:innen dazu. Im Jahr 1999 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Wirtschaftsmagazins „brand eins“, für dessen Schwerpunkte er bis heute seine Essays schreibt, die, wie er sagt, „der längst überfälligen ökonomischen Emanzipation dienen“.