Energie für Veränderungen

Eckhardt Rümmler, 14.06.2021
Viele Branchen haben es uns gezeigt: einmal Gelerntes hat eine immer kürzere Halbwertszeit. Es gab Zeiten, da konnten uns die Energiefachleute in den Versorgungsunternehmen erklären wie der Strom in die Steckdose kommt. Egal an welcher Position dieser Wertschöpfungskette man gearbeitet hat, seine Rolle und die Schnittstellen waren gut zu erklären. Die Technologien waren etabliert und entwickelten sich in inkrementellen Verbesserungen von Wirkungsgradprozentpunkten oder über Kostenvorteile der Skaleneffekte. Die Versorgungsgebiete waren reguliert und zum Teil abgegrenzt. Die Unternehmen waren entlang der gesamten Wertschöpfung investiert und wurden als integrierte Unternehmen bezeichnet. Um eine optimale Energieversorgung sicherzustellen war das Wissen über die gesamte Wertschöpfungskette erforderlich und möglich.
Derweil vollzogen sich in anderen Branchen bereits schwerwiegende Veränderungen. Treiber dafür waren Technologie, Regulierung und Wettbewerb:
- Ein Lexikon ist heute etwas für Menschen, die ihre Bibliothek schmücken oder in geselliger Runde (nach der COVID-19-Pandemie wieder selbstverständlich) einen Spieleabend verbringen wollen. Auf jeden Fall wird es nicht mehr benötigt um etwaige Wissenslücken zu schließen.
- Ein Post Unternehmen kann heute nicht mehr von den kleinen Briefsendungen leben, vielmehr sind sie zu global vernetzten Logistikunternehmen geworden.
- Chemie Unternehmen werden von Grundstoffproduzenten zu Spezialisten von Medizin und Produkten für die Agrarindustrie.
- Öl- und Gasunternehmen spezialisieren und transformieren sich in die Hochleistungschemie.
- Wer heute ein Auto verkaufen will, muss bei mobilen Energiespeichern und dem vernetzten Fahren ganz vorne mit dabei sein.
- Finanzdienstleister sind heute nicht mehr die breit aufgestellte Bank oder Sparkasse um die Ecke; Spezialisten brechen aus dem Bankangebot spezielle Dienste heraus und bieten diese den Kunden direkt an, so z.B. Zahlungsdienstleister oder heutige Börsenplattformen für Zero-Cost-Transaktionen.
- Diese Liste ließe sich beliebig verlängern.
Die neuen Technologien zerstören einerseits, aber andererseits ermöglichen sie auch neue Geschäfte. Die traditionellen Unternehmen können diese Technologien selber entwickeln und anwenden und ihre eigenen traditionellen Produkte verdrängen oder es machen andere. Die Regulierung greift in die Geschäfte ein, sobald sich monopolartige Strukturen bilden. Das sehen wir bei vielen Infrastrukturindustrien. Das monopolisierte Wissen über die gesamte Wertschöpfung soll extra gebrochen werden um anderen, neuen Marktteilnehmern eine faire Markteintrittschance zu geben. Dadurch entsteht zunehmender Wettbewerb, wendige spezialisierte Unternehmen treten in den Markt ein, mit meist innovativen Produkten.
Insgesamt führte diese Entwicklung nicht nur zu gänzlich neuen Teilnehmern im Markt. Es erfolgte bei allen in diesen Veränderungen stehenden Unternehmen eine Fokussierung, Spezialisierung und, wenn sie zu Champions wurden, auch eine Internationalisierung
Wie stark ist die Energiewirtschaft von diesen Veränderungen betroffen und wie reagieren die Unternehmen darauf?
Auch hier sind Regulierung, Technologien und Wettbewerb die größten Treiber. Schauen wir uns zunächst die Regulierung an. Früher war es üblich, sogar gewünscht, alle Wertschöpfungsstufen in einer Hand zu halten. Heute ist das Ziel der Markt-Regulierung im Energiebereich monopolisierte Information entweder allen Marktteilnehmern oder gar keinem zugänglich zu machen. Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Wertschöpfungsstufen ist dann zu unterbinden, wenn besondere Vorteile, die ein Dritter nicht haben kann, daraus entstehen. Besonders zwischen den Netzen und der Stromerzeugung und zwischen den Netzen und dem Vertrieb gibt es starke Restriktionen. Das sogenannte „legal un-bundling“ führt dazu, dass zwischen diesen Unternehmensteilen effektive „Brandschutzmauern“ errichtet werden müssen, damit keine Synergien entstehen und u.a. keinerlei Informationsaustausch möglich ist. Und das aus gutem Grund. Durch diskriminierungsfreien Zugang sollen alle Strom und Gasnetze jedermann mit jeder möglichen Technologie zur Verfügung stehen. Das schafft Wettbewerb und verhindert monopolartige Strukturen.

Die vergangenen Technologien der Energiewirtschaft waren durch hohe Markteintrittsbarrieren gekennzeichnet. Wer kann schon für mehrere Milliarden Euro ein zentrales Kraftwerk errichten und diese komplexe Technologie dann beherrschen? Die meisten unserer heutigen Technologien im liberalisierten Bereich sind kleiner, weniger komplex. Windkraftanlagen, Solaranlagen, Batterie Speicher aber auch der Endkundenbereich mit allgemein verfügbaren Kundenabrechnungssystemen oder die Smart-Home-Anwendungen sind dafür gute Beispiele. Neue, wendige und spezialisierte Wettbewerber sind in den letzten Jahren in den Markt gekommen. Aber auch die Fach- und Führungskompetenz der Unternehmen wird herausgefordert. Die Vielzahl der heutigen Geschäftsmodelle, befeuert durch die neuen Technologien, erschwert es Topmanagern Einschätzungen in der vollen Breite und Tiefe der Energiewirtschaft zu geben und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die großen Megatrends Digitalisierung, Dezentralisierung und Dekarbonisierung mit den damit eingehenden Innovationen verstärken diesen Trend.
Damit sind wir schon beim Wettbewerb. Viele der heutigen und in der Entwicklung befindlichen Energietechnologien verlieren an Komplexität – oder sie sind in anderen Industrien schon gebräuchlich. Auf der einen Seite entwickeln sich kleinere innovative Neuankömmlinge im Markt und andererseits interessieren sich große Unternehmen aus anderen Branchen für die spannenden Themen in der Energiewirtschaft (z.B. Gas- und Ölunternehmen investieren in erneuerbare Energien, Internetfirmen digitalisieren den Stromvertrieb, Versicherungen suchen Investitionen in Energieprojekten etc.)
Ganz offensichtlich ist das Geschäftsmodell des integrierten Unternehmens gebrochen. Die Vielzahl der Einzeltechnologien und Geschäftsmodelle ist kaum noch überschaubar. Neue Wettbewerber sind in ihren jeweiligen (zum Teil recht großen) Nischen sehr gut aufgestellt. Ein Unternehmen kann nicht mehr in allen Bereichen der Energiewirtschaft exzellent sein um im Wettbewerb zu bestehen.
Die meisten unserer heutigen Technologien im liberalisierten Bereich sind kleiner, weniger komplex. Windkraftanlagen, Solaranlagen, Batterie Speicher aber auch der Endkundenbereich mit allgemein verfügbaren Kundenabrechnungssystemen oder die Smart-Home-Anwendungen sind dafür gute Beispiele.
Welche strategischen Antworten geben die Energieunternehmen auf diese Entwicklung?
Die Antwort darauf ist nicht ganz eindeutig, weil es eine Vielzahl von verschiedenartigen Energieunternehmen gibt, die auch den Druck aus Regulierung, Technologie und Wettbewerb unterschiedlich stark verspüren. Auch ist die Frage der Eigentümerschaft und deren Erwartungen mit ausschlaggebend für die Antworten. Landesversorger und große Stadtwerke haben die lokale Nähe zu den KundInnen zum Kern ihrer Marke gemacht und sich daraus weiterentwickelt. Wenig überraschend ist, dass sehr viele ihre Strategie unter dem Motto „Fokussierung, Spezialisierung, Internationalisierung“ angepasst haben.
Schauen wir uns einige typische Beispiele an:
- Vom Allrounder zum Spezialisten
Eines der ganz prägenden Beispiele ist das dänische Unternehmen Oersted. Das Unternehmen war im Gas- und Stromgeschäft tätig und hat sich vollständig zum weltweit größten Anbieter und Betreiber von Wind-Offshore-Anlagen transformiert. Der Spezialist ist nun Technologieführer und betreibt weltweit den größten Anlagenpark. Dazu passt auch, dass das Unternehmen seinen Namen 2017 geändert hat. Von DONG (Danish Oil and Natural Gas) zu Oersted.
- Fokussierung als Ausweg gegen Komplexität
Ein weiteres Beispiel ist das französische Unternehmen Engie. Das Unternehmen hat 160.000 MitarbeiterInnen. Mehrfach hat sich das Unternehmen gewandelt und fusioniert. Im letzten Jahr hat Jean-Pierre Clamadieu, der Vorsitzende des Verwaltungsrates mit den Worten: „Mit der Zeit ist Energie zu kompliziert geworden“ eine radikale Fokussierung des Unternehmens angestoßen. Es „ist schwierig geworden bei der Allokation der Mittel klare Entscheidungen zu treffen“. Das vielfältige Geschäftsportfolio wird also fokussiert. Geschäfte mit ca. 74.000 Mitarbeitern werden den Beteiligungskreis verlassen. Die verbleibenden Geschäfte bekommen nun neuen Raum zum Wachsen.
- Fokus und Internationalisierung
Weniger kurzfristig, radikal aber durch seine schon seit über 10 Jahre konstante Richtung sehr wirksam, stellt sich Iberdrola auf. Es gibt zwei Geschäftsfelder bei denen das wesentliche Wachstum des Unternehmens stattfindet: Erneuerbare Energien und reguliertes Geschäft als Stabilisator. Und das nicht nur auf der Iberischen Halbinsel, sondern auch in Nord- und Mittelamerika. Heute ist die Marktkapitalisierung von Iberdrola in etwa so groß wie die von Engie, RWE und EON zusammen. Wer hätte das vor 10 Jahren gedacht.
- Champion im Kampf um die Kunden
EON hat sich in den letzten 10 Jahren sehr stark transformiert und bis dahin wichtige Kerngeschäfte abgegeben. Heute ist EON Spezialist für das Endkundengeschäft sowohl für die Produkte (Strom, Gas) als auch für die Leitungen zu den Kunden, den Verteilnetzen. Mit über 50 Mio. KundInnen und dem größten Verteilnetz Europas hat sich EON auf einen Teil der gesamten Wertschöpfungskette spezialisiert und macht das in vielen Ländern Europas sehr erfolgreich.
- Wettbewerbliche und CO2-freie Stromerzeugung
Einen ganz anderen Teil der Wertschöpfungskette und damit der Fokussierung, hat die Finnische Fortum im Auge. Fortum hat all seine regulierten Stromnetze verkauft und setzt den Fokus auf CO2-freie Stromerzeugung. Die Stromerzeugung aus Kernkraft, Wasserkraft und Erneuerbaren Energien steht im Fokus. Für die Brücke und Systemstabilisierung können Gaskraftwerke eine Rolle spielen. Die Erlöse aus den Verkäufen, der nicht mehr im Mittelpunkt stehenden Geschäftsteile, ermöglichten Fortum die Umsetzung der Strategie und seine Internationalisierung durch große Zukäufe zu beschleunigen.
In Europa sind in den letzten Jahren aus einigen der integrierten Versorgungsunternehmen regelrechte Champions mit einem Schwerpunkt auf bestimmte Teile der Wertschöpfungskette entstanden. Wettbewerb und Innovationen, Technologie und neue Geschäftsmodelle sind nun besser zu managen. Risiken und Chancen können besser abgewogen werden. Die Kompetenz wird gestärkt. Da macht es nichts, dass man einige Unternehmen nicht mehr fragen kann, wie der Strom in die Steckdose kommt.
Eckhardt Rümmler ist unabhängiger Aufsichtsrat im Verbund und verfügt über eine langjährige Erfahrung in der Energiewirtschaft. Als Chief Operating Officer und Chief Sustainability Officer bei Uniper hat er maßgeblich die strategische Positionierung mitbestimmt. Davor hat er jahrelang für Unternehmen wie EON, PreussenElektra und STEAG in führenden strategischen und operativen Rollen gearbeitet.