ESG als Chance begreifen
Ferdinand Harnoncourt-Unverzagt, 08.05.2024
ESG, also die Etablierung von betrieblichen Standards in Bezug auf Umwelt, Soziales und Unternehmensführung ist – zurecht – in den heimischen Unternehmen angekommen. Unsere Branche muss bei dem Thema eine Vorreiterrolle einnehmen, denn die Bau- und Immobilienwirtschaft ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber, gleichzeitig ist der Gebäudesektor für über ein Drittel des Gesamtenergieverbrauchs verantwortlich.
In der Praxis kommt ESG in den Unternehmen leider allzu oft auf zwei Arten an: Als Worthülse, in die man bestehende Inhalte packt und unter einem klingenden, neuen Titel verkauft. Oder als teilweise unüberschaubare Regulatorik, bei der die handelnden Personen schnell dazu tendieren, das Große und Ganze sowie den eigentlichen Sinn von ESG aus den Augen zu verlieren.
Ich sehe die aktuellen Herausforderungen um ESG vor allem als langfristige Chance, Positives für Mensch und Klima zu bewirken, und unsere Branche hat dabei einen großen Hebel. Unsere größte Aufgabe als Unternehmen ist es, das Thema als fixer Bestandteil in der Unternehmenskultur zu verankern.
Für die Immobilienbranche ist die Schnittstelle zwischen ESG und Digitalisierung inklusive KI wesentlich. Hier liegt viel Potenzial brach. Wir sitzen auf vielen wichtigen Daten, aber können diese noch nicht effizient verarbeiten und nutzen. Das liegt weniger an den Systemen, denn das Internet der Dinge, Cloud-Computing, KI und maschinelles Lernen sind in anderen Branchen schon erfolgreich im Einsatz. Diese Tools werden uns auch in der Bau- und Immobilienbranche bei der Planung, im Baumanagement und Bau, später beim Betrieb der Immobilien, der technischen und kaufmännischen Hausverwaltung und am Ende des Lebenszyklus bei der Wiederverwendung der Rohstoffe (Cradle to Cradle) unterstützen und wesentlich voranbringen.
Aber wichtig: Bevor wir die großflächige Implementierung von (teuren) digitalen Lösungen angehen, müssen wir sicherstellen, dass sie auch von den Menschen im Unternehmen angenommen werden. Das funktioniert nicht über Schulungen allein, sondern vor allem über das richtige Mindset und eine zeitgemäße Unternehmenskultur. Ein modernes Verständnis von Leadership spielt hier die entscheidende Rolle.
Was bedeutet das in der Praxis? Agile Unternehmensstrukturen brechen konzernintern gewachsene Silos auf, fördern die Freude der Mitarbeiter*innen an neuen Aufgaben und begünstigen somit Innovation. Ein positiver Umgang mit Fehlern ermöglicht ein vertrauensvolles Arbeitsumfeld; lebenslanges Lernen schafft eine positive Entwicklungskultur im Unternehmen. Als Führungskräfte haben wir die große Aufgabe, den fruchtbaren Boden für Innovation im Unternehmen zu bereiten. Genau diese Innovationskraft wird es uns ermöglichen, Herausforderungen wie zum Beispiel durch ESG als Chance zu begreifen und zu nutzen.
Parallel zur Unternehmenskultur müssen wir auch unsere Unternehmensstrukturen neu denken. Das komplexe Thema ESG ist in den Unternehmen noch vielfach personell unterbesetzt und hat ein geringeres Standing und geringere Ressourcen als arrivierte Abteilungen. Überspitzt formuliert: Wieso integrieren wir unsere Nachhaltigkeitsberichte in unsere Finanzberichte und nicht umgekehrt unsere Finanzberichte in unsere Nachhaltigkeitsberichte?
Ferdinand Harnoncourt-Unverzagt ist im BIG-Konzern für die Unternehmensstrategie und Kommunikation verantwortlich. Der Prokurist ist seit 2008 in der Bundesimmobiliengesellschaft in leitender Funktion tätig. Zuvor war er unter anderem bei Böhler-Uddelholm und im Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie tätig.
Der Artikel erschien im immobilien investment 2/2024.