Essay von Ilija Trojanow: Lichte Zukunft
Ilija Trojanow, 24.07.2024
Die Welt wird schöner mit jedem Tag. / Man weiß nicht, was noch werden mag … / Nun muß sich alles, alles wenden.
Ludwig Uhland
Wer dieser Tage ausruft „Die Zukunft ist voller Licht“, wird abfällig belächelt. Oder des Hohns bezichtigt. Wir leben in einer Dämmerung voller düsterer Ahnungen und die Zukunft selbst ist nicht mehr selbstverständlich. Kein Wunder, denn die Apokalypse strömt per Flatrate in jeden Haushalt, der Optimist erscheint als bedrohte Menschenart.
Scheinbar steht unsere Zukunft auf tönernen Füßen. Bis gestern war alles gut, heute ist vieles nicht mehr so gut und morgen – darüber sind wir uns überwiegend einig – wird nichts mehr gut sein. Wir haben so viel Angst vor drohenden Verlusten, dass wir vergessen, was wir haben und was wir sein könnten. Unsere Reaktion: Lähmung. Aus Furcht vor den realen Herausforderungen fliehen wir ins imaginierte Grauen, nicht zuletzt, um den essenziellen und notwendigen Kämpfen, etwa gegen die ökologischen Krisen, auszuweichen. Wir legen die Hoffnung noch vor der großen Prüfung ab.
Allerdings trifft diese Beschreibung vor allem auf die wohlhabenden Länder zu, wie eine Umfrage des European Council on Foreign Relations neulich festgestellt hat. Fast 60 % der Befragten in Mitteleuropa blicken pessimistisch in die Zukunft. In Indien hingegen sind es gerade einmal sechs Prozent! (Keine Ausnahme: In Indonesien sind es sieben Prozent.) Wie kann das sein?
Jeder Mensch, der etwas Zeit in einem Flüchtlingslager oder einem Slum verbracht hat, weiß, dass jene, die (fast) alles verloren haben, mit mutiger Zuversicht auf das Morgen blicken. Aufgeben ist für sie keine Option. Aus dem einfachen Grund, dass sie ansonsten dem Untergang geweiht wären. Anders gesagt: Pessimismus muss man sich leisten können. Wer seine Familie mühsam ernährt, unter schwierigsten Bedingungen und ohne Unterstützung durch ein Amt oder einen reichen Onkel, motiviert sich selbst durch den Glauben an eine bessere Zukunft. Anders können Menschen im Existenzkampf nicht bestehen. Pessimismus setzt ein bequemes Sofa und ein kaltes Bier voraus.
Jedem historischen Umbruch geht eine allgemeine Verunsicherung voraus. Einerseits werden utopische Ideen formuliert (zum Beispiel Abschaffung der Sklaverei, Frauenwahlrecht, Menschenrechte), andererseits wird der Kopf in den Sand (oder Marmor oder Beton) gesteckt. Stets gibt es einen Quantensprung zwischen der larmoyant beschworenen Rhetorik des Weltuntergangs und der leuchtenden Schönheit des Neuen. Und die Wahl zwischen Erstarrung und Aufbruch.
Es ist offensichtlich, dass menschlicher Fortschritt zunächst in Ideen keimt, in „weltfremden“, „abstrusen“, „naiven“ Fantasien von Denkerinnen und Philosophen, von Aktivistinnen und Künstlern, bevor er in Transformationen aufgeht. Am Anfang steht ein utopischer Anspruch und am Ende, nach unzähligen Kämpfen, ein stolzes Stück positiver Menschheitsgeschichte. Und weil dem so ist, müssen wir, um unsere Zuversicht wieder an der Garderobe der Geschichte abzuholen, das wagemutige, visionäre Denken entstauben und in die Lebenslinien und Blutbahnen unseres täglichen Denkens und Wirkens leiten.
Zur Veranschaulichung dieser Dynamik möchte ich auf ein wunderbares, visionäres Projekt hinweisen, auf die „Tage der Utopie“ in Vorarlberg (um genau zu sein auf Schloss Arbogast bei Götzis). An diesem Ort kommen alle zwei Jahre Menschen zusammen, die sich Gedanken machen über das, was sein wird und was sein könnte. Mit einem geschärften Möglichkeitssinn und offenem Ohr. Ideen für eine bessere Zukunft, für alle Menschen auf Erden und für unseren beschädigten Planeten. Sie stellen Entwürfe, Konzepte und auch Projekte vor, die sich ins Unbekannte und Ungewisse hineindenken, Alternativen zum Gegenwärtigen, das bekanntlich von sich behauptet, alternativlos zu sein. Solche Visionen einer anderen Gestaltung von Gesellschaft sind entgegen allen dogmatischen Unkenrufen in den medialen und digitalen Sphären keineswegs Mangelware oder gar inexistent. Im Gegenteil: Sie sind vielfältig und reichhaltig vorhanden, leider aber zugleich meist unsichtbar und daher wenig bekannt.
Am ersten Abend war ich eingeladen, einen Vortrag zu halten, am nächsten Tag wurde ausgiebig und mit zeitlicher Muße diskutiert. Unter anderem mit Interessierten aus der regionalen Wirtschaft. In meinem Fall waren dies Mitarbeiterinnen eines innovativen und weltweit erfolgreichen Unternehmens, das „flache“ Hierarchien eingeführt hat (ein Rotationsverfahren bei den Führungspositionen gehört dazu) und Innovation nicht beschwört, sondern praktiziert. Im Laufe eines stundenlangen intensiven Gesprächs kamen wir darauf, dass im beruflichen Alltag – wie auch in den gesamtgesellschaftlichen Sphären – die Suche nach einer Lösung für ein akutes Problem das Denken dominiert und somit einengt, sodass der gedankliche Horizont von den eigenen vier Bürowänden begrenzt wird. Wie wäre es, so unsere weiteren Überlegungen, wenn wir dieses einschränkende Vorgehen umkehrten und stattdessen von einer Vision des Ersehnten und Erhofften ausgingen. Da diese formuliert und diskutiert werden müsste, würden sich in einem solchen Prozess gewagtere Vorschläge beziehungsweise Lösungen herauskristallisieren. Wie wäre es, wenn wir uns von einer solchen Vision ausgehend zurückbewegten, auf das aktuelle Problem hin? Wenn wir, um im Bild zu bleiben, den Horizont ausdehnten, um zurücksegeln zu können, zu jener Insel, die uns anfänglich als einziger Kontinent erschien?
Mehrere Monate später traf ich einen Professor, der sich in Mannheim mit Studierenden aus fünf Universitäten auf vier Kontinenten dem Speculative Design widmet. In ihren Projekten entwerfen die jungen Gestalterinnen alternative Zukunftsvisionen mit einem innovativen Potenzial für die Gegenwart. Ich wurde eingeladen, an einer der Seminarsitzungen teilzunehmen. Die Euphorie war mit allen Sinnen (leicht übertrieben) greifbar. Die belebende und inspirierende Möglichkeit, sich konkret und handfest ins Unbekannte vorzudenken. Die vorgestellten Projekte waren betörend, weniger weil sie eine unmittelbare Anwendung aufzeigten, sondern weil sie Fenster und Türen öffneten. Das Denkbare wird zum Möglichen und das Mögliche eines Tages zum Gelebten.
Das Utopische ist in unseren Breitengraden leider zu einem Missverständnis geschrumpft. Die Verbindung zwischen dem Streben, als Mensch besser zu werden, und einer gesellschaftlichen Veränderung ist gekappt. Der Einzelne soll sich vervollkommnen, das Optimum aus sich herausholen. Jeder Mensch – so wird gefordert – soll flexibel und dynamisch auf Belastungen und Zumutungen reagieren. Von der Gesellschaft hingegen wird dies nicht verlangt. Das ist die Krux unserer Epoche. Der Ego-Wahn hat das Individuum in ein Labor der selbstexperimentellen Adaption – neudeutsch Resilienz – verwandelt. Eher können wir uns vorstellen, den Menschen zu einem Cyborg zu machen oder durch Roboter und KI zu ersetzen, als die derzeitigen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens und Wirkens zu verändern.
Gegen Depression helfen entweder Pillen oder Utopien. Nicht als politische Manifeste, die einen besserwisserischen Anspruch erheben. Nicht als ultimative Wahrheiten. Nicht als Dogmen. Vielmehr als Erzählungen, als Visionen, die in der Lage sind, die Zukunft von den Fesseln der gegenwärtigen Zumutungen zu befreiten. Derartige Gedanken lüften das miefige Zimmer unserer Verzagtheit.
Utopien seien diffus, wird oft kritisiert. Das stimmt, aber dies ist ihre Stärke. Die Vielfalt an Denkansätzen, die Verknüpfung von Ziffern, Zahlen und Zeichen mit Erträumungen. Die Unterwanderung des Quantifizierbaren durch die Fantasie. Keine brotlose Kunst des Unmöglichen, sondern die positive Vernunft des Notwendigen. Eine Welt des Werdens. Wenn wir davon ausgehen, dass eine jede und ein jeder von uns aufgrund unserer individuellen kognitiven Einschränkungen auf einem Auge blind ist, müssten wir auch dem Zeitgeist misstrauen und unseren verschlossenen Blick ins Visionäre richten. In diesem Sinn verheißt Utopie die Heilung unserer partiellen oder absichtlichen Blindheit.
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb der schwedische Autor Stig Dagerman: „Für Zeiten ohne Hoffnung gibt es kein größeres Gefängnis als die Zukunft. Die Utopien sind zusammengebrochen, es ist Herbst. Im Regen auf dem Hauptplatz der Zukunft errichtet die aktive Hoffnungslosigkeit eine neue Bastille.“ Doch gibt es gute Gründe, optimistisch zu sein. Trotz eines Systems, das Eigennutz und Gier belohnt, erleben wir täglich solidarisches Handeln, gegenseitige Hilfe, gemeinschaftliche Lösungen. Diese kleinen und großen Handreichungen tragen mehr zum Gleichgewicht in der Gesellschaft bei als jene profitablen, quantifizierbaren Prozesse, die dazu dienen, einer immer kleineren Schicht Macht und Reichtum zu sichern. Ohne Utopien droht uns die Hoffnungslosigkeit, und diese ist „die vorweggenommene Niederlage“ (so Karl Jaspers). Sollte wenig Konkretes bei diesen Kopfreisen herauskommen, „ein Leben im Traumland macht glücklich“ (so Mahatma Gandhi). Das gelegentliche Verweilen im Tagtraumland immunisiert gegen die grassierende Zukunftsangst. Ich kann es nur empfehlen. Und wir sollten nicht warten, bis wir an einen runden Tisch geladen werden, sondern selbst eine visionäre Tafelrunde eröffnen.
Ilija Trojanow, Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer, ist ein Kosmopolit, ein Public Intellectual und ein großer Erzähler. 2006 veröffentlichte er den Roman „Der Weltensammler“, der zu einem Welterfolg wurde. In seinem 2023 veröffentlichten Roman „Tausend und ein Morgen“ entwirft er eine friedliche Zukunft, in der die menschengemachten Krisen bereits bewältigt wurden.