Resiliente Lieferketten: Mehr als nur ein Hype?
Jürgen Prumetz, 19.09.2022
Mehrere Monate Wartezeit, deutlich höhere Kosten oder mangelnde Verfügbarkeit wichtiger Produkte: Komponenten und Rohstoffe prägen die Lieferketten der heimischen Industrie. Kostendruck und Skalierungszwang sowie regulatorische Rahmenbedingungen haben Abhängigkeiten geschaffen. Spätestens seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine ist diese Abhängigkeit auch im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert. Wie brüchig unsere Lieferketten sind, wurde bereits mit den ersten COVID-19 Einschränkungen in wichtigen Produktions- und Logistikzentren in China sichtbar. Für einen regelrechten Schock in der Lieferkette sorgte wiederum die sechstägige Blockierung des Suez Kanals im März 2021 durch die Ever Given, ein in Panama registriertes Frachtschiff japanischer Eigentümer.
Verlässlichkeit, Planbarkeit und Kosteneffizienz gehören zu den wesentlichen Voraussetzungen für einen im internationalen Wettbewerb erfolgreichen Wirtschaftsstandort. Wie könnte daher die Industrie diesen Abhängigkeiten begegnen?
Vorratsbeschaffung: Das Ende der schlanken Bilanz
Angesichts der ständigen Verfügbarkeit notwendiger Vorprodukte, hat sich die heimische Industrie in den vergangenen Jahren verstärkt auf kosteneffiziente Produktionsprozesse fokussiert. Die Reduktion von Lagerhaltungskosten und die Vermeidung der langfristigen Kapitalbindung wurden zu den prägenden Prinzipien der modernen Fertigung. Diese genau abgestimmte „just-in-time“ Erzeugung ermöglichte es Unternehmen mit einer „schlanken“ Bilanz ihre Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Handel zu stärken. Mit dem Ausfall von Lieferungen und der fehlenden (kostenadequaten) Verfügbarkeit wichtiger Rohstoffe müssen diese Unternehmen nunmehr ihr zeitlich abgestimmtes Logistikkonzept überdenken.
Überlegungen für mehr Widerstandsfähigkeit in der Lieferkette
Neben dem
- Aufbau von Lagerkapazitäten und der
- Diversifizierung der Zulieferung durch Innovationsteams wird auch der
- Regionalisierung der Lieferkette sowie das Thema
- Nachhaltigkeit in allen ESG-Dimensionen künftig eine größere Rolle übernehmen.
Aufbau von Lagerkapazitäten
Der Aufbau von Lagerkapazitäten entlang der Versorgungswege ist dabei eine einfache und – je nach Gegebenheiten – relativ rasch umsetzbare Möglichkeit die Versorgungsfähigkeit resilienter zu gestalten. Die Evaluierung zentraler Schwachstellen der Logistik und die Abfederung dieser Defizite durch Einlagerung wesentlicher Rohstoffe erlaubt es etwaige Lieferprobleme durch Zugriff auf einen erweiterten Lagerbestand zu überbrücken. Ein optimiertes Logistikkonzept entlang der eigenen Versorgungswege reduziert Kosten und flexibilisiert die Beschaffung. Allerdings entsteht durch diesen Aufbau zusätzliche Komplexität, da die geographische Diversifikation neue Geschäftsbeziehungen bedingt. Logistikanbieter mit einem überregionalen Netzwerk können länderübergreifend unterstützen und mit betroffenen Unternehmen die bestmögliche Optimierung der Versorgung erarbeiten.
Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass gerade in einem Umfeld steigender Zinsen und der steigenden Inflation, die Beschaffung zusätzlicher Vorräte die Liquidität belastet. Unproduktives Kapital wird gebunden und verschlechtert das Bilanzbild. Ebenso gilt es das damit einhergehende höhere Marktrisiko zu berücksichtigen. Dies kann sich wiederum negativ auf das jeweilige Kreditrisiko auswirken und höhere Finanzierungskosten verursachen.
Neue, altbekannte Finanzierungslösungen können diesbezüglich Abhilfe schaffen. Strukturierte Finanzierungslösungen ermöglichen einen bilanzschonenden Erwerb fungibler Waren. Die Beschaffung erfolgt durch das jeweilige Unternehmen über ein technisches Konstrukt, welches durch ein oder mehrere Kapitalgeber finanziert wird. Der Finanzierungsnehmer kann die für die Produktion erforderlichen Erzeugnisse gegen Bezahlung oder Übertragung von Sicherheiten auslösen und verarbeiten. Eine derartige Lösung ermöglicht es Kosten für den Aufbau von Lagerbeständen auf eine vertretbare „Versicherungsprämie“ zu reduzieren. Für strategisch relevante Sektoren könnten staatliche Garantien überlegt werden. Dort wo massiver Finanzbedarf notwendig wird oder eine regelmäßige Finanzierung erforderlich ist, besteht die Möglichkeit den Kapitalmarkt durch Ausgabe von Wertpapieren einzubinden.
Diversifizierung von Lieferketten durch Innovationsteams
In einer arbeitsteiligen Wirtschaft erfolgt die Fertigung eines Produktes durch unterschiedliche Partner entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Das jeweilige Endprodukt besteht aus einer Summe von Einzelkomponenten, die, entsprechend den Vorgaben des Erzeugers, erstellt und zusammengefügt werden müssen. Innovation reduziert sich daher nicht auf den Erzeuger (bzw. bei der Auftragsfertigung auf den Auftraggeber eines Endproduktes), sondern erfolgt durch enge Zusammenarbeit sämtlicher Beteiligter. Durch diese enge Zusammenarbeit entlang der gesamten Erzeugungskette kann jeder Beteiligte seine Erfahrung einbringen. Dadurch können Innovationsschritte rasch umgesetzt und ökologische Nachhaltigkeit kann frühzeitig berücksichtigt werden.
Ein derartiges Innovationskonzept bedingt wechselseitiges Vertrauen und erzwingt – insbesondere bei ausgewählten Schlüsselkomponenten – eine enge Zusammenarbeit mit wenigen, gut gewählten Partnerunternehmen. Dies steht allerdings im Widerspruch zur Idee der Diversifizierung wichtiger Lieferanten. Fällt ein Partner aus, können entsprechende Komponenten nicht oder nur deutlich schwieriger ersetzt, begonnene Entwicklungsschritte verzögert oder gar verunmöglicht werden. Die Schaffung unternehmensübergreifender Entwicklungsplattformen an wichtigen Wirtschaftsstandorten könnte diesbezügliche Risiken abfedern und partnerschaftliche Forschung flexibilisieren. Institutionen, die standortrelevante Überlegungen berücksichtigen, können unter Umständen meditativ in den jeweiligen Diskussionsprozess eingreifen.
Voraussetzung dafür ist ein regulatorisches Umfeld, welches den Aufbau von Plattformen für Forschung und Entwicklung fördert. Dazu gehört nicht nur die finanzielle Förderung von Innovationen, sei es durch die Bereitstellung von Kapital, den (erleichterten) Zugang zum Finanzmarkt oder die Einräumung steuerlicher Vorteile. Ebenso wichtig ist für die Ansiedlung von Innovationszentren ein Rahmen, der die Internationalisierung der jeweiligen Forschungsteams unterstützt. Teams, die sich aus Vertretern der einzelnen Partner entlang der gesamten Wertschöpfungskette zusammensetzen, müssen nicht nur Zugang zum heimischen Arbeitsmarkt bekommen, sondern sich in der neuen Heimat auch wohl fühlen können.
Editorischer Hinweis: Ob die Einbindung lokaler und regionaler Partner in die Supply Chain automatisch mehr Resilienz bedeutet und wie Nachhaltigkeit in der Lieferkette neben der Risikominimierung auch zum Wettbewerbsfaktor werden kann, analysiert Jürgen Prumetz in einer unserer kommenden Perspektiven. Bleiben Sie dran!
Jürgen Prumetz betreut in der ÖBAG als Investment Manager VERBUND und die OMV. Er verfügt über langjährige, sektorübergreifende Transaktions- und Finanzierungserfahrung. Vor seiner Zeit in der ÖBAG arbeitete Jürgen Prumetz knapp 14 Jahre in der Erste Group Bank AG, davon mehr als zwei Jahre als Leiter des Corporate Finance Teams in Polen. Zuletzt publizierte er Beiträge und Analysen zu den Themen Wasserstoffwirtschaft in Österreich und Kreislaufwirtschaft.